Fachbereich für Kinder und Jugendliche
Jahresbericht 2023
Für unseren Jahresbericht 2023 wollen wir Ihnen ein paar der Menschen, die bei Refugio München in therapeutischer Behandlung sind, vorstellen. Sie stehen exemplarisch für all die schweren Schicksale unserer Klient*innen.
Shqipe Krasniqi, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, zögert bei der Frage, ob sie über ein paar ihrer jungen Klient*innen aus dem letzten Jahr erzählen möchte. „Können wir unseren Leser*innen diese harten, traurigen Geschichten wirklich zumuten? Das Problem ist: Alle, die zu mir kommen, haben sehr schlimme Dinge erlebt.“
Die erste handelt von Tian aus Afghanistan. Mit zwölf Jahren musste er mit ansehen, wie die Taliban seinen Vater ermordeten. Er wurde verschleppt, doch ihm gelang die Flucht. Tagelange Fußmärsche entlang an Landstraßen und über Felder. Dann weiter auf einem Boot nach Griechenland. Dort lebte Tian mehrere Jahre auf der Straße.
Auch die Geschichte von Siana aus Eritrea ist schwer zu ertragen. Ihre Mutter starb bei der Geburt. Mit acht Jahren wurde sie eingeschult und mit elf wieder von der Schule genommen, um im Haushalt ihrer Verwandten zu helfen. Mit dreizehn wurde sie mit einem Mann verheiratet, der dreimal so alt war wie sie. Von ihm wurde sie jahrelang misshandelt.
Und dann ist da Beti. Sie ist heute dreizehn. Schon mit neun verlor sie während des Krieges in Syrien fast ihre komplette Familie. Das Mittelmeer überquerte sie mit ihrer Mutter zusammengepfercht auf einem kleinen Schlauchboot. Angekommen in Europa fand sie zunächst kein Leben in Sicherheit. Im Camp Moria auf Lesbos erlebte sie Gewalt und den Brand des Lagers im Jahr 2020.
Tian, Siana und Beti. Für den Artikel haben wir die Namen der Jugendlichen geändert, damit sie nicht wiedererkannt werden können. Wenn ihre Geschichten an dieser Stelle enden würden, blieben sie traurig. Doch die drei hatten Glück. Sie sind drei von 208 Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2023 bei Refugio München therapeutisch behandelt wurden.
Nach mehreren Jahren auf der Flucht gelangte Tian über die Balkanroute nach Deutschland und dann über einige Umwege zu Refugio München. In den ersten Therapiestunden erzählte er Shqipe Krasniqi von Albträumen, Angstzuständen und einer tiefen Traurigkeit, die ihn häufig überkam. Im Lauf der Therapie lernte Tian, seine Geschichte in Worte zu fassen und über den Tod seines Vaters zu sprechen. In den letzten Therapiesitzungen sprach er mit Shqipe mehr über die Zukunft. Der Therapeutin ist wichtig, dass Tian nicht in einer Opferrolle bleibt. Heute ist er 18. Im Sommer 2023 schaffte er seinen qualifizierenden Abschluss. Im Anschluss hat er eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen.
Auch Siana gelang die Flucht nach Deutschland. Sie erhielt einen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung. Ihre Bezugsbetreuerin meldete sie bei Refugio München an. In der Therapie lernte Siana, mit ihrer Geschichte und Krankheits-Symptomatik umzugehen. Durch die Therapie gelangte sie zu einer für sie ganz neuen Erkenntnis: Sie kann selbst Entscheidungen treffen und ihrem Leben eine Richtung geben, die ihr gefällt. Die heute Sechzehnjährige beginnt gerade die Ausbildung zur Krankenschwester. Therapiestunden braucht sie nur noch gelegentlich.
Auch Beti gelang die Flucht nach Deutschland. Doch fast jede Nacht wachte sie schreiend auf und musste von ihrer Mutter beruhigt werden. Die Erinnerungen an die Überfahrt im Schlauchboot und die Gewalt in Flüchtlingscamp verfolgten sie in ihren Träumen. In den Therapiesitzungen lernte sie, einen Umgang mit ihren Alpträumen und ihrer Trauer zu finden. Ihre Mutter erhielt parallel einen Platz in unserem Elterntraining bei Refugio München und lernte, ihre Tochter besser zu unterstützen. Seit der Therapie haben sich Betis Schulnoten verbessert und sie fühlt sich wohl in der Klasse.
Gerade junge Menschen, die zeitnah nach ihrer Ankunft in Deutschland therapeutische Hilfe erhalten, können ihrem Leben eine komplett neue Richtung geben und innerhalb kurzer Zeit hier Fuß fassen. Dabei brauchen sie dasselbe wie alle Kinder, weiß Shqipe Krasniqi: „Es sind ganz selbstverständliche Dinge: Wertschätzung, Verständnis dafür wie sie sind und natürlich brauchen sie Sicherheit“. Tian, Siana und Beti haben sie gefunden.