Eine neue Zukunft schaffen

Mental Health Center Ukraine (MHCU)
Jahresbericht 2023

Im Mai 2022 haben wir das Mental Health Center Ukraine (MHCU) gegründet. Solange der Krieg andauert, wird auch psychosoziale Hilfe für die Menschen nötig sein, die davor fliehen.

Das MHCU war unsere schnelle Reaktion auf den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Aus unserer langjährigen Erfahrung heraus mussten wir nicht erst sehen, wie traumatisiert und psychisch verletzt Menschen hier ankommen, wenn sie vor Krieg und Terror fliehen. Wir wissen das und doch waren die Bedarfe der Geflüchteten aus der Ukraine zunächst anders, als wir sie in unserem Behandlungszentrum in der Rosenheimer Straße kennen. Der Fokus lag stark auf der Akuthilfe und Stabilisierung, da die Kriegs- und Fluchterlebnisse bei den Betroffenen aus der Ukraine noch sehr frisch waren. Unser Konzept bestand vor allem aus Soforthilfe für akute Belastungssituationen sowie stabilisierenden Gruppen.

So gibt es zum Beispiel Kunsttherapiegruppen für Kinder und eine Gruppe zur Beratung für Eltern, wie sie ihre Kinder bei der Verarbeitung des Erlebten unterstützen und sich selbst stabilisieren können. Für Jugendliche hatten wir eine Gruppe mit dem schönen Namen „recreate your own future“, in der es darum ging, eine neue Zukunftsperspektive aufzubauen. Eine aktuelle Gruppe nennt sich „Kraftquellengruppe“: Hier wird gemeinsam überlegt, was in der Vergangenheit, aber vielleicht auch jetzt noch möglich ist, um Kraft zu schöpfen. Wir vermitteln sogenannte Skills, also Methoden zur Beruhigung, zum besseren Einschlafen oder Atemübungen; aber auch wo die eigenen Grenzen der Belastbarkeit liegen, wann und wie man negative Gefühle stoppen und mit den eigenen Emotionen besser umgehen kann. Das Team des MHCU besteht aus deutsch, ukrainisch und russisch sprechenden Psychologinnen, Sozialpädagoginnen, einer Dolmetscherin und einer Ärztin.

2023 haben sich die Bedürfnisse der Klient*innen aus der Ukraine zum Teil dahingehend verändert, dass es nicht mehr ausschließlich um die akute Belastungssituation und psychosoziale Erste Hilfe geht. Gerade bei Kindern und Jugendlichen treten durch den Alltag in Deutschland alte und neue Probleme auf: Zum Beispiel in der Schule, Schwierigkeiten mit dem neuen Umfeld sowie dem Verlust der Heimat und Zukunftsaussichten. Eltern wiederum wollen die Kinder unterstützen, wissen aber nicht wie und sind oft selbst voller Sorge um Angehörige in der Heimat oder haben schlicht Existenzängste. Gleichzeitig müssen sie sich um herausfordernde Formalitäten kümmern, wie zum Beispiel Anträge im Jobcenter, Zeugnisanerkennung oder die Suche nach Arbeit. Viele Familien haben Schwierigkeiten anzukommen, sind sie doch eigentlich davon ausgegangen, in naher Zukunft zurückzukehren. Doch je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird die Rückkehr und bei vielen gibt es nichts mehr, wohin sie zurück könnten, weil der Heimatort und das eigene Zuhause völlig zerstört sind. Niemand weiß, wann und wie die Ukraine wieder aufgebaut werden kann. Und alle sind zusätzlich weiterhin Akutbelastungen ausgesetzt, weil Angehörige im Kriegseinsatz oder durch Bombenangriffe getötet werden.

 

Das MHCU Team

Ein Erinnerungsbuch für Andrij

Der 10jährige Andrij ist seit März 2022 zusammen mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester in Deutschland. Im Juni 2023 ist der Vater des Jungen in der Armee gefallen. Andrij zog sich nach dem Tod des Vaters in sich selbst zurück, er hatte Alpträume und entwickelte nervöse Ticks. Im Juli 2023 kam die Mutter mit ihm zur Beratung ins MHCU. Der Junge hatte mehrere Stabilisierungsgespräche bei uns, um über den Tod des Papas zu sprechen. So konnten wir das Kind in seiner Trauer begleiten und ihm helfen, damit zu leben.  Wir haben ein Erinnerungsbuch über den Vater gemacht und dieses Buch bei jedem unserer Treffen weiter befüllt. Durch die Beschäftigung mit dem Buch konnte Andreji einerseits die Erinnerung an seinen Vater aufrechterhalten, aber gleichzeitig auch den Tod professionell begleitet verarbeiten. Auch die Mutter war zur Beratung bei uns. Wir haben mit ihr Rituale entwickelt, durch die sich die Familie gegenseitig in der schweren Zeit stützen kann. So konnten wir ihnen helfen, mit dem schweren Verlust umzugehen und sich auf eine neue Perspektive einzulassen.