Jahresbericht 2020
Kinder- und Jugendbereich
Im Frühjahr 2020 spricht die Ärztin Heike Baumann-Conford ihre Kollegin Franziska Bamberg aus dem Fachbereich für Kinder und Jugendliche auf den Fall eines Jugendlichen aus Afghanistan an. Er ist gerade im Rahmen einer Familienzusammenführung nach München eingereist und braucht Hilfe. In diesem Artikel nennen wir ihn Hassan.
Hassans großer Bruder ist damals schon seit mehreren Jahren bei uns in Therapie. Die ganze Familie wurde in Afghanistan verfolgt. Die Geschichte ist zu traurig, um sie hier zu erzählen. Auf der Flucht haben sich Hassan und sein Bruder verloren. Hassan ist schwer traumatisiert. Heike Baumann-Conford bittet ihre Kollegin, den jungen Hassan zu einem Erstgespräch einzuladen.
Man könnte meinen, Hassan sei nun in Sicherheit. Schließlich hat er es bis nach Deutschland geschafft. „Aber auch hier wäre alles sehr schwierig geworden, wenn er nicht bei uns gelandet wäre“, sagt Franziska Bamberg.
Nach seiner Einreise muss sich Hassan zunächst einer Alterseinschätzung unterziehen. Die Behörden glauben ihm nicht, dass er erst siebzehn ist. Er hat keine Ausweispapiere, weil sie ihm von den griechischen Behörden abgenommen wurden. Ein Aufenthaltsstatus im Rahmen des Familienasyls ist nur für Minderjährige möglich. Deshalb ist die Frage des Alters hier entscheidend. Bei der medizinischen Untersuchung kommen die Ärzt*innen des Jugendamtes schließlich zu der Einschätzung, dass Hassan volljährig sei. Für Hassan hat diese Einschätzung massive negative Folgen: Als erste Konsequenz verliert er seinen durch das Familienasyl gesicherten Aufenthaltsstatus und muss ein eigenes Asylverfahren durchlaufen. Für den schwer traumatisierten Jugendlichen ist das eine enorme Belastung. Außerdem muss er aus seiner Jugendeinrichtung ausziehen. Nun wird er in ein Mehrbettzimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft verwiesen. Einige Zeit später erhält er dann sogar einen Brief mit der Anordnung, von München in das Ankerzentrum nach Manching umzuziehen. Die Lebensumstände dort sind schlecht und äußerst belastend. Hassan ist psychisch so labil, dass er einige Tage in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik untergebracht wird.
„Das ist ein exemplarischer Fall für die Ungerechtigkeiten und den Behördendschungel, mit dem viele unserer Klient*innen täglich konfrontiert sind,“ sagt Franziska Bamberg. Ohne professionelle Hilfe hätte Hassan sich in diesem Dschungel wohl verloren. Doch die Sozialpädagogin klemmt sich hinter den Fall, telefoniert mit den verschiedenen Behörden wie z.B. dem Stadtjugendamt. Sie weiß, dass auch vermeintlich Volljährige Anspruch auf Jugendhilfe haben können, wenn ein Jugendhilfebedarf vorliegt und in einer Jungendhilfeeinrichtung untergebracht werden dürfen. Das Ergebnis der vielen engagierten Telefonate: Hassan muss nicht nach Manching und bekommt sogar einen neuen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung. Und dann gelingt es Hassan noch, seine Geburtsurkunde aus Afghanistan zu organisieren. Darin steht, dass er im Jahr 2002 geboren wurde. Nun kann er belegen, dass er zum Zeitpunkt der Einreise wirklich 17 war.
Hassan kommt nun regelmäßig zu Therapie-Sitzungen. Zusammen mit dem Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Guido Terlinden arbeitet er seine Fluchtgeschichte auf. „Er hat sich sogar für eine konfrontative Behandlung entschieden, in der wir die gesamte Fluchtgeschichte aufgeschrieben und durchgegangen sind. Durch die Behandlung hat er sich sehr stabilisiert,“ berichtet der Therapeut.
Hassan sagt rückblickend: „Damals war ich überhaupt nicht mit meinem Leben zufrieden. Dann kam Herr Terlinden und wir haben die Therapie gestartet. Er hat mir dabei geholfen, dass sich das ändert. Jedes Mal, wenn ich zu ihm kam, haben wir Gespräche geführt und er hat gesagt: Im Leben gibt es immer wieder Schwierigkeiten und wir werden jetzt zusammen Lösungen finden.“ Der junge Mann lächelt jetzt. Auch Franziska Bamberg ist er dankbar: „Sie hat mir die vielen Dokumente erklärt und mir mit meiner Altersfeststellung geholfen. Dann hat sie mich an die Jugendhilfe vermittelt. Sie ist eine sehr freundliche Frau.“
Heute macht Hassan vorsichtig Pläne für die Zukunft. Nach der Schule möchte er eine Ausbildung beginnen, vielleicht zum Krankenpfleger oder zum Automechatroniker. Das weiß er noch nicht. Bei Refugio München habe er viel Menschlichkeit erfahren, sagt er. Diese möchte er an möglichst viele Menschen weitergeben.