Früherkennung besonders schutzbedürftiger Asylsuchender in der Erstaufnahme – SoulCaRe (Soul Consideration and Recognition)
Unser Konzept zur systematischen Früherkennung von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden wird seit Januar 2021 in der Erstaufnahme in München durchgeführt. Eine Evaluation des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung IPP München aus den Jahren 2021 bis 2022 hat die hohe Wirksamkeit unseres Konzepts gezeigt: Sowohl Behörden als auch Mitarbeitende von Sozialdiensten und die betroffenen Asylsuchenden berichten von Verbesserungen bei der Unterbringung und in der Anhörung zum Asylverfahren.
Zusammenfassung der Evaluation durch das IPP:
Bisher gibt es wenig Ansatzpunkte, besonders schutzbedürftige Geflüchtete nach Artikel 21 der EU-Aufnahmerichtlinie von 2013 bei der Ankunft in Deutschland zu erkennen, um ihren besonderen Bedarfen im Asylverfahren gerecht werden zu können. Das Pilotprojekt SoulCaRe von Refugio München will diese Lücke schließen. Erprobt wird das Konzept in der Kurzaufnahme für Asylsuchende in der Lotte-Branz-Straße in München.
Das dreistufige Konzept sieht vor, dass zunächst psychosoziale Peerberater*innen Kontakt zu den neu angekommenen Asylbewerber*innen aufnehmen und nach einem Kennenlerngespräch mit diesen einen Screening-Bogen ausfüllen. Die Diagnostik wird von Fachärzt*innen für Psychiatrie/psychosomatische Medizin und Psychotherapie bzw. von psychologischen Psychotherapeut*innen vorgenommen, die auch die Empfehlungen für die Anschlussunterbringung, Anbindung an das Gesundheitssystem und die Anhörung erstellen. In einem dritten Schritt setzt das sozialpädagogische Case-Management ein. Hier geht es um Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der besonders vulnerablen Personen bei der Anschlussunterbringung, beim Asylverfahren und bei der medizinischen Betreuung.
SoulCaRe wurde von Mai 2021 bis Juni 2022 vom IPP München wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Dazu wurden mit den Mitarbeitenden von SoulCaRe und Vertreter*innen von Refugio München sowie der Aufnahmeeinrichtungen und zuständigen Behörden qualitative Interviews geführt. Weiter wurden gemeinsam mit dem SoulCaRe-Team Dokumentationsbögen für die jeweils betreuten Asylbewerber*innen entwickelt. Festgehalten wurden neben soziodemografischen Variablen und Fragen zur Fluchtgeschichte die Belastungen, Diagnosen, Screeningwerte und Empfehlungen. Dazu kamen sogenannte Nachsorgebögen, mit deren Hilfe die Asylbewerber*innen in den Aufnahmeeinrichtungen über den Verlauf der Anhörung und die Umsetzung der Empfehlungen befragt wurden.
93 Prozent der Asylsuchenden berichteten in den Gesprächen von Belastungen/Traumatisierungen vor und während ihrer Flucht, 75 Prozent erlebten Traumata selbst und 30 Prozent waren Zeug*innen von Gewalt bzw. traumatisierenden Szenen.
Ein Großteil der Klient*innen erfüllte die ICD 10 Kriterien verschiedener psychischer Diagnosen (87 %). Weit mehr als die Hälfte wiesen zwei Diagnosen auf, ca. 15 Prozent drei oder mehr. Am häufigsten wurden posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und depressive Störungen diagnostiziert. Die Prävalenzraten in dieser Studie fallen mit 65,8 Prozent für PTBS und 64,6 Prozent für Depression im Vergleich zu anderen Studien sehr hoch aus. Dass die Ressourcen in der weiteren Betreuung von Asylbewerber*innen stark begrenzt sind, zeigt sich deutlich bei der Umsetzung der Empfehlungen, die das Diagnose- Team von SoulCaRe ausgesprochen hat. Während die Empfehlungen für die Anhörung weitgehend umgesetzt wurden, konnten die Empfehlungen für die Anschlussunterbringung und die medizinische bzw. psychotherapeutische Behandlung nur teilweise umgesetzt werden, wie die Nachbefragung ergeben hat.
Alles in allem hat sich das Konzept der Früherkennung besonders vulnerabler Gruppen in der Erstaufnahme bewährt. Gerade der Dreiklang aus psychosozialen Peerberater*innen, medizinisch-psychologischer Diagnostik und sozialpädagogischer Betreuung ist stimmig.
Die Peerberater*innen können sowohl durch ihre Sprachkompetenz, als auch durch ihr tieferes Verständnis kultureller Faktoren einen guten Zugang zu den Geflüchteten erschließen und so Vertrauen in die weiterführende Diagnostik erzielen.
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