„Interkulturelles Pendeln nützt auch der Mehrheitsgesellschaft“
Barbara Abdallah-Steinkopff ist Psychologin und schon seit 1994 für Refugio München tätig. 22 Jahre lang hat sie Menschen mit Traumata therapiert. Sie gibt Fortbildungen und Supervisionen zum Thema Migration, Trauma, Kultursensibilität und Therapie. Das Interkulturelle Pendeln als eine grundlegende Methode für die interkulturelle Verständigung hat sie mit anderen Kolleg*innen entwickelt.
Was ist das Ziel vom Interkulturellen Pendeln?
Das Interkulturelle Pendeln soll Verständnis für unterschiedliche Verhaltensweisen schaffen, die sich aus den verschiedenen Lebenskontexten ergeben – in der Erziehung, bei der Arbeit, in der Schule, eigentlich in allen Lebensbereichen. Zum Ziel des Pendelns hat mein Kollege Stephano Scala mal etwas sehr Gutes auf den Punkt gebracht: „Dein Blick, mein Blick, Ein-Blick!“ Das bedeutet: Durch das Verständnis der verschiedenen Sichtweisen entsteht ein gemeinsamer Blick auf gewisse Verhaltensweisen.
Bedeutet das, beide Seiten sind beim Pendeln gefragt? Also nicht nur die Klient*innen von Refugio München sollten zwischen den Kulturen pendeln, sondern auch die Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft?
Absolut. Die Mehrheitsgesellschaft denkt sich ja oft: Naja, die Zugewanderten sind neu hier. Die müssen sich anpassen. Selbst halten sie es nicht für notwendig, sich mit der anderen Seite auseinander zu setzen. Dadurch fehlt in der Mehrheitsgesellschaft oft das Wissen über andere Kulturen und damit das Verständnis für bestimmte Verhaltensweisen zugewanderter Menschen. Viele Menschen in Deutschland gehen davon aus, dass die Welt überall so tickt wie hier und dass die beste Lösung hier gefunden wurde. Aber auch sie können durch das Pendeln einiges lernen. Und unseren Klientinnen und Klienten nutzt das Pendeln dabei, das Leben, das sie hier kennenlernen, richtig zu interpretieren.
Hast Du ein Beispiel für verschiedene Wertvorstellungen?
Ein gutes Beispiel ist das Thema Höflichkeit: Während es in vielen Ländern unhöflich ist, einer älteren Person in die Augen zu sehen, wird es in Deutschland eher als unhöflich oder unaufrichtig gewertet, wenn man dem Blickkontakt mit einer Autoritätsperson ausweicht. Das Pendeln ermöglicht uns, die verschiedenen dahinter liegenden Wertvorstellungen abzugleichen und zu erklären. Beim Thema Höflichkeit habe ich übrigens oft das Gefühl, dass wir Menschen hier in Deutschland viel aus anderen Kulturen lernen können, wo sie eine größere Rolle spielt.
Und wie wird entschieden, auf welche Verhaltensweisen man sich einpendeln sollte zwischen Herkunftsland und hier?
Die meisten Themen müssen zugewanderte Menschen und Familien für sich entscheiden: Welche Werte, die sie aus dem Herkunftsland mitgebracht haben, möchten sie behalten? Und welche Wertvorstellungen oder Verhaltensweisen von hier übernehmen sie lieber, weil es das neue Leben leichter macht. Die einzige ganz klare Orientierung bietet der rechtliche Rahmen. An den müssen sich alle halten.
Ist es wichtig, dass die Person, die das interkulturelle Pendeln anleitet, in der Therapie oder dem Erwachsenentraining selbst einen Migrationshintergrund hat? Sollte sie zum Beispiel selbst aus dem Land kommen wie der Klient oder die Klientin?
Eher im Gegenteil halte ich es oft für sinnvoll, wenn die Person zu Beginn des Pendelns wenig weiß und die Perspektive des anderen exploriert. Es ist ganz gut, wenn sich jemand gar nicht auskennt und ihm oder ihr das natürlich auch bewusst ist. Es braucht die Haltung: Ich weiß es nicht und deswegen frage ich nach.
Kann man das Interkulturelle Pendeln als Methode lernen?
Ja, in unseren Fortbildungen bringen wir Menschen das Interkulturelle Pendeln näher. Die Herausforderung besteht oft darin, etwas zu erklären, was eigentlich selbstverständlich ist.
Kann man etwas falsch machen beim interkulturellen Pendeln?
Eigentlich nicht. Außer dass man Dinge, die einem selbstverständlich sind, nicht anschaulich und ausreichend genug erklärt. Ein häufiger Fehler ist, dass wir nicht berücksichtigen, wie unterschiedlich die Lebensbedingungen auf der Welt sind. Unsere sicheren Lebensbedingungen in Deutschland betreffen nur eine Minderheit der Weltbevölkerung.
Barbara Abdallah-Steinkopff ist Dipl. Psychologin und psychologische Psychotherapeutin und seit der Gründung von Refugio München 1994 in der Organisation.