Haben wir Afghanistan vergessen?

Schutz für Menschen aus Afghanistan

Tausende Afghan*innen, die an der Seite der NATO für Demokratie, Menschenrechte, Bildung und Frauenrechte gekämpft haben, sind bei der Machtübernahme der Taliban 2021 in Afghanistan zurückgeblieben und in großer Gefahr.    

Seit den dramatischen Szenen der Evakuierungsflüge im August 2021 versuchen viele engagierte Menschen, gefährdete Personen aus Afghanistan zu evakuieren. Auch Refugio München ist aktiv, um Angehörige von Klient*innen und Mitarbeitenden über das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) sicher nach Deutschland zu bringen. Birke Siebenbürger koordiniert bei uns die Anträge für das BAP. Shaira (Name zum Schutz der Familie geändert) ist Psychologin bei Refugio München und hat noch ihre Eltern und eine jüngere Schwester in Afghanistan.

Birke, wie läuft die Aufnahme von gefährdeten Personen über das BAP?

Es gibt einen sehr aufwendigen Online-Fragebogen. Da muss dokumentiert werden welche Gefährdung vorliegt, was genau passiert ist, in welchem Bereich die Person tätig war und sehr viel mehr. Das habe ich für Angehörige von Klient*innen gemacht. Das BAP macht dann über einen langwierigen Prozess eine Plausibilitätsprüfung.

Wie läuft diese Prüfung ab?

Am besten legt man Belege vor, beispielsweise bei Journalist*innen Artikel oder bei NGO Mitarbeitenden Arbeitsverträge. Wichtig ist, dass man die Gefährdung chronologisch und mit vielen Details glaubhaft dokumentiert. Diese Informationen gehen dann zu unserem Dachverband BAfF. Dieser liest den Fall gegen und leitet ihn an die Koordinierungsstelle, welche dann eventuell noch Rückfragen stellt. Wenn die es durchwinken, geht es ans Bundesinnenministerium (BMI), das wiederum unter Umständen die betroffenen Personen in Afghanistan für weitere Informationen kontaktiert. Wenn ein Fall soweit gekommen ist, lädt die deutsche Botschaft in Pakistan irgendwann die Betroffenen zu einer sehr intensiven Befragung ein. Wir haben inzwischen 4 von 14 Fällen beim BMI zur Prüfung. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie nach Deutschland einreisen können.

Warum ist das so schwierig?

Wir haben zum Beispiel den Vater von zwei politisch aktiven Söhnen, der wurde von den Taliban entführt und gefoltert. Der Vater fällt trotz der erfahrenen Gewalt nicht ins Programm, weil die Söhne schon in Deutschland sind und er nicht selbst politisch aktiv war. Die Taliban nehmen aber trotzdem Rache an den Familienangehörigen, die noch in Afghanistan sind.

Oder ein Geschwisterpaar, das politisch aktiv war, aber keine Pässe hat. Sie können sich keine Pässe besorgen, weil dann die Taliban sofort wissen, wo sie sind. Aber ohne Pässe können sie gar nicht nach Pakistan zur Anhörung und selbst wenn sie es über die Grenze schaffen würden, lässt das BMI sie dann nicht nach Deutschland einreisen.

Shaira und Birke im Gespräch über die Möglichkeiten, gefährdete Personen aus Afghanistan zu holen.

Shaira, du hast auch noch Familie in Afghanistan?

Meine Eltern und meine 19jährige Schwester leben noch in Afghanistan und wurden von Refugio München ins BAP eingereicht. Wir waren immer in Gefahr wegen meiner Arbeit bei der GIZ (Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit) und der meines Bruders als Rechtsanwalt. Mein Bruder hat 2021 Afghanistan mit seiner Frau verlassen. Er hatte damals die Genehmigung zur Evakuierung seiner Familie – also er mit seiner Frau und den Kindern – bekommen, weil er auf einer Liste von besonders gefährdeten Personen stand. Sie konnten dann über Pakistan ausgeflogen werden. Ich konnte auch 2021 über die Ortskräfteliste nach Deutschland kommen, durfte aber meine Eltern und Schwester nicht mitnehmen.

Wie geht es dir und deiner Familie?

Ich muss sehr viel an sie denken und mache mir große Sorgen. Meine Schwester muss jetzt die ganze Verantwortung tragen und als wir sie zurückgelassen haben, war sie erst 17. Sie sind nur noch im Haus und verstecken sich. Die Taliban suchen und bedrohen meine Eltern und meine Schwester, weil sie Aktivistin für Frauenrechte war und wegen meiner Aktivitäten und der meines Bruders. Psychisch ist das sehr schwierig für meine Schwester. Sie war immer aktiv, hat Medizin studiert und jetzt kann sie nicht einmal mehr aus dem Haus gehen. Im Moment können meine Familie und ich nur warten, dass wir sie über das BAP in Sicherheit bringen.

Birke:

Eigentlich ist das Programm ein guter Weg, um gefährdeten Menschen Schutz zu gewähren. Wer ausgeflogen wird, hat keinen gefährlichen Fluchtweg, kann sofort Deutschkurse besuchen, arbeiten und sich integrieren. Aber insgesamt wurden über 42.000 Fälle gemeldet und nur 2.200 bisher an das BMI weitergeleitet. Das Ganze ist sehr arbeitsintensiv und es gibt anscheinend zu wenig Kapazitäten, um die Fälle zu bearbeiten. Wir bleiben dran, auch wenn uns das viel Zeit und Energie kostet.