Wie wirkt sich eine Traumatisierung aus?
Traumatisch wirkt jede Situation, in der ein Mensch erfahren muss, dass er macht- und hilflos ist. Im Vergleich zu Naturkatastrophen und Unfällen, die bedrohlich genug auf Menschen wirken können, ist die Erfahrung von menschlicher Gewalt tiefgreifender. Grausamkeiten, die Menschen während des Krieges und in Gefängnissen sowohl als Augenzeug*innen als auch als Opfer erlebt haben, bleiben für sie unfassbar – ein namenloses Grauen, das unvereinbar ist mit dem ursprünglichen Glauben an die Existenz von Menschlichkeit.
Die Erfahrung menschlicher Gewalt wirkt sich im Gegensatz zum Erleben von Naturkatastrophen (wie beispielsweise ein Tsunami) schwerwiegender auf die Beziehungsfähigkeit der Opfer in ihrem zukünftigen Leben aus. Traumatisierung als Folge politischer Gewalt (Bürgerkrieg, politische Verfolgung und Folter) erschüttert das grundlegende Vertrauen gegenüber Mitmenschen. Der Schatten des Misstrauens legt sich über alle sozialen und intimen Beziehungen. Besonders gravierend wirken weniger die körperlichen Misshandlungen, abgesehen von bleibenden körperlichen Schäden, sondern eher die Erfahrung gezielter Entwürdigung und die erlebte Gleichgültigkeit der Täter*innen gegenüber den Opfern.
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen der Traumatisierung durch Naturkatastrophen und der Traumatisierung durch politische Gewalt ist der prozesshafte Kontext, in dem sie stattfindet. Während Naturkatastrophen ein einmaliges Ereignis sind, vollziehen sich Traumatisierungen durch politische Gewalt über einen längeren Zeitraum. Bei geflüchteten Menschen reihen sich traumatische Erfahrungen im Herkunftsland und die anhaltende Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus im Exilland aneinander. Diese mehrjährige existenzielle Belastung erhöht das Risiko einer Chronifizierung der Symptomatik.
Die posttraumatische Belastungsstörung gilt als häufigste Folge nach traumatischen Erfahrungen. Der Autor und Sozialpsychologe David Becker merkt dazu an, dass die Bezeichnung „posttraumatische Belastungsstörung“ das Leiden aus dem politischen Kontext reiße, in dem es stattgefunden habe. Im Vordergrund stünde dann nicht mehr das kollektiv erlebte Trauma, sondern die Störung und Symptomatik des einzelnen Opfers. Er schlägt daher vor, den Kontext der Traumatisierung immer mit einzubeziehen. Die Bezeichnung einer posttraumatischen Belastungsstörung würde zudem suggerieren, dass die Belastung vorüber sei. Bei traumatisierten Geflüchteten jedoch kämen in der Exilphase Belastungen durch erschwerte Lebensbedingungen über viele Jahre noch hinzu – von einem „post“ könne daher keine Rede sein.
Wie zeigt sich eine Traumatisierung im alltäglichen Leben?
Die Folgen von Gewalterfahrungen zeigen sich auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene:
Körperliche Symptome
Abgesehen von organischen Verletzungen durch alle möglichen Misshandlungen bleibt der Körper über Jahre hinweg in einer Art Alarmstimmung. Jede Kleinigkeit, die tatsächlich oder entfernt an die traumatischen Erfahrungen erinnert, wirkt wie ein Signal für Bedrohung. Solche Signale können beispielsweise uniformierte Menschen, Nachrichten, Lärm und Enge oder Jahrestage einer Verhaftung sein. Angstreaktionen wie Herzrasen, Zittern, Angstschweiß, Atemnot, Übelkeit bis hin zu Ohnmachtsanfällen werden dadurch ausgelöst.
Psychische Symptome
Mit diesen körperlichen Reaktionen verknüpft treten fast immer Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen auf. Als Erinnerungen beschreiben alle Betroffenen Bilder, in denen besonders schreckliche Details ihrer Erfahrungen wiederkehren. Manche berichten auch von Erinnerungen, in denen sie Schreie, Schritte und andere für die Gefangenschaft spezifische Geräusche hören. Auch in den Träumen wiederholen sich Szenen aus den traumatischen Ereignissen. Die Albträume und die vegetative Übererregung, im Sinne einer erhöhten Alarmstimmung, sind Ursache für über Jahre andauernde Schlafstörungen.
Betroffene leiden darunter, dass sie, wie sie häufig beschreiben, von diesen Erinnerungen und den Angstreaktionen heimgesucht werden, ohne Einfluss darauf zu haben. Ihre einzige Möglichkeit, das Auftreten der Erinnerungen zu steuern, besteht in dem Versuch, Auslöser für diese Erinnerungen zu meiden. Häufig führt das Vermeidungsverhalten zu einer Einschränkung des Lebensbereiches, vor allem im Freizeitbereich und bei sozialen Kontakten. Die berufliche Tätigkeit, wenn man in der Lage dazu ist, wird immer als Halt empfunden, da sie eine Ablenkungsmöglichkeit bietet und das Gefühl vermittelt, in der Gegenwart zu sein.
Soziale Probleme
Die über Jahre andauernde Übererregung des vegetativen Nervensystems verursacht eine leicht auslösbare Reizbarkeit und erschwert den Umgang mit Affekten. Diese erhöhte Nervosität kann in Konfliktsituationen zu aggressiven Verhaltensweisen führen und damit zu immer wiederkehrenden sozialen Konflikten und Beziehungsstörungen.
Traumafolgen im familiären System
Kinder, die im Rahmen von Krieg und Verfolgung traumatisiert wurden, können ihr Leiden nicht in Worten und beschreibbaren Erinnerungen ausdrücken. Ausdruck findet ihre Traumatisierung in auffälligem Verhalten und einer Rückentwicklung ihrer bereits erworbenen Fähigkeiten. „Wenn die gesamte Familie traumatisiert wurde, bezieht sich das konkrete Leid der Kinder auf die Wahrnehmung der Hilflosigkeit und Zerstörung der Eltern. Ein Kind, das bei der Vergewaltigung der Mutter zuschauen muss, erlebt nicht nur, wie einem geliebten Menschen schreckliches Leid angetan wird, sondern auch, dass es der eigenen Mutter nicht helfen kann und dass diese ihre Schutzfunktion dem Kind gegenüber verliert. Die Verletzung des Kindes ist daher dreifach. Eine Gefahr für ihre weitere Entwicklung besteht darin, dass die Eltern aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung ihrer Rolle als Vater und Mutter nicht mehr gerecht werden können“, so David Becker in einem Interview für den Refugio München Report von April 2005. Traumatisierte Eltern können ihren Kindern oft nicht die notwendige Fürsorge und Entwicklungsförderung geben und leiden unter massiven Schuldgefühlen.
Die Kinder stellen für die traumatisierten Eltern häufig den einzigen Lebenssinn dar. Im Sinne von elterlichen „Aufträgen“ werden Kinder mit Aufgaben überfordert, die nicht kindgerecht sind. Insbesondere übernehmen z.B. Mädchen Fürsorgepflichten in der Familie. Diese Kinder wachsen mit dem Gefühl auf, nie den Ansprüchen ihrer Eltern gerecht zu werden. Diese Parentifizierung nimmt Kindern ihre Kindheit und blockiert eine gesunde psychosoziale Entwicklung.
Schutz und Sicherheit hilft
Die Symptomatik als Folge von Gewalterfahrung lässt sich daher zusammenfassend als immer wieder auslösbarer Zustand beschreiben, der den ursprünglichen Angst- und Panikreaktionen auf die Gewalterfahrungen ähnlich ist. Unter der Qual eines unfreiwilligen Wiedererlebens erfahrener Grausamkeiten leiden viele Betroffene über Jahre hinweg.
Wie sehr diese Symptomatik die Einzelnen in der Bewältigung des alltäglichen Lebens beeinträchtigt, ist ganz besonders von den gegenwärtigen Lebensbedingungen abhängig. Je mehr Sicherheit in der Gegenwart – bei Geflüchteten durch ein gesichertes Bleiberecht – gewährt wird, desto geringer ist das Gefühl der ständigen Bedrohung, immer noch hilflos und damit schutzlos zu sein. Am Beispiel vieler Betroffener zeigt sich, dass eine eigenständige Lebensführung unter gesicherten Lebensbedingungen trotz körperlicher und psychischer Beeinträchtigung möglich ist.
Literatur
Angelika Birck (2004). Themenschwerpunkt Diagnostik und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie und psychologische Medizin, Jg 2 (2).
David Becker (2014). Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Psychosozial-Verlag (Gießen).
Was ist ein Trauma?
Erfahrungen aus 30 Jahren Refugio München
Aufzeichnung der Online-Veranstaltung vom 23. Januar 2023