Die Situation in Afghanistan war und ist eine der größten Belastungen für Klient*innen und Mitarbeiter*innen
Die Taliban haben im August noch während des Abzugs der NATO-Truppen in Afghanistan die Macht übernommen und viele Menschen mussten überstürzt fliehen. Nur ein Bruchteil der gefährdeten Personen konnte durch Evakuierungsflüge in Sicherheit gebracht werden. Auch bei Refugio München kamen und kommen immer noch zahlreiche Hilferufe an: Eine Extrem-Situation für die Mitarbeiter*innen, die nur im Team zu bewältigen war.
In einem Gespräch, das wir für den Refugio München Report aufgezeichnet haben, tauschen sich Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Camilla Ulivi, Sozialpädagogin Tanja Lüders und Javed Rahimi, Dolmetscher für Dari, Pashto und Urdu, über die Situation aus.
Wie habt ihr die Wochen der Evakuierungen erlebt?
Javed Rahimi:
Die Situation war dramatisch. Ich komme aus Kabul und meine Familie ist noch in Afghanistan. Sie haben für die Regierung oder als Ortskräfte gearbeitet. Meine Verwandten wollen das Land verlassen, aber die Grenzen sind dicht und sie verstecken sich. Sie haben Todesangst. Wenn sie von den Taliban erwischt werden, werden sie getötet. Ich habe mir große Sorgen gemacht und musste gleichzeitig meine Arbeit als Dolmetscher machen. Meine Kollegen bei Refugio wussten auch, wie bestürzt ich war und wir mussten Sitzungen kürzer machen.
Tanja Lüders:
Ja wir hatten auch manchmal vier, fünf Sitzungen hintereinander und das war sehr anstrengend. Wir bekommen auch immer noch viele Mails von Menschen, die nach Hilfe suchen. Wir merken es auch an den Anmeldungen. Auch Menschen, die schon länger in Deutschland sind, geht es jetzt sehr schlecht. Die Belastung ist sehr groß.
Camilla Ulivi:
Für uns Therapeut*innen war es schwer, weil wir mitbekommen haben, wie eigentlich stabile Klient*innen wieder Alpträume, Ängste, Gedankenkreisen und starke Schlafstörungen hatten und es ihnen deutlich schlechter ging. Wir haben Menschen erlebt, die so verzweifelt waren, dass sie lebensmüde Gedanken bekamen, nicht mehr arbeiten konnten und die uns um Hilfe gebeten haben. Dieser Schmerz war kaum zu lindern, und das mit auszuhalten, war sehr belastend. Da kann man auch nach der Arbeit nicht abschalten.
Tanja Lüders:
Unsere eigene Ohnmacht war und ist immer noch das schlimmste in dieser Situation.
Javed Rahimi, Camilla Ulivi und Tanja Lüders (v.l.) im Gespräch über die Wochen der Evakuierungsflüge aus Kabul
Camilla Ulivi:
Die Nachrichten aus Afghanistan überfordern unsere Klient*innen. Ein Patient von mir hat massive Schuldgefühle und hat sogar überlegt zurückzugehen. Er wollte seiner Familie helfen und nicht nur zusehen. Ich konnte ihn überzeugen, dass das niemandem hilft und er eventuell sogar seiner Familie noch zusätzlichen Schmerz zufügt, wenn er in Afghanistan schwer verletzt oder getötet wird. Es war jedoch schwierig, ihn einigermaßen zu beruhigen.
Javed Rahimi:
Afghanen verstehen es als ihre Aufgabe, der Familie zu helfen. Ich hatte auch einen Klienten, der zurück wollte, um sich um seine Mutter und Schwester zu kümmern. Er hat große Schuldgefühle. Vor allem die jüngeren fühlen sich völlig überfordert, sie können ja hier nichts machen, zum Teil dürfen sie nicht mal arbeiten und haben daher auch kaum Geld.
Tanja Lüders:
Wir hatten früher auch immer wieder Klient*innen, bei denen die Existenzsicherung der Familie belastend war, aber jetzt haben wir niemanden aus Afghanistan, den es nicht betrifft. Bis zur Machtübernahme der Taliban hatten nicht alle Familien in Afghanistan finanzielle Probleme, jetzt sind alle in Not.
Javed Rahimi:
Meine Tante bekommt seit drei Monaten kein Gehalt mehr. Die Taliban lassen sie nicht mehr arbeiten. So geht es vielen Frauen, sie müssen Lebensmittel kaufen, Miete zahlen, aber sie haben kein Geld.
Camilla Ulivi:
Die Machtlosigkeit ist ein großer Stressfaktor. Trösten und Aushalten das war und ist unsere schwierigste Aufgabe. Und bei der aktuellen Situation in Afghanistan ist das kaum zu ertragen.
Tanja Lüders:
Wir haben noch nie bei so vielen professionell in der Flüchtlingshilfe Arbeitenden in München so viel kollektive Verzweiflung und Hilflosigkeit erlebt. Andere Facheinrichtungen haben zum Teil bei uns angefragt, wie man damit umgehen kann.
Wie unterstützt ihr die Hilfesuchenden?
Tanja Lüders:
Wir sind da, damit die Menschen reden können und bis zum 31. August konnten wir über die offiziellen Kanäle Menschen auf die Evakuierungslisten setzten.
Es gibt auch eine tolle finanzielle Unterstützung der Erzdiözese München, wo wir für Familienangehörige in Afghanistan Gelder aus einem Sondertopf beantragen können. Das ist zum Beispiel für Jugendliche, damit sie nicht Ausbildung abbrechen müssen, um in der aktuellen Notlage Geld schicken zu können.
Tanja Lüder kümmert sich als Sozialpädagogin um Familien im Alltag und im Asylverfahren
Dr. Camilla Ulivi ist Fachärztin
für Psychiatrie und Psychotherapie
Javed Rahimi ist Dolmetscher
für Dari, Pashto und Urdu
Was hilft euch in solchen extrem schwierigen Phasen?
Camilla Ulivi:
Die Therapeut*innen tauschen sich untereinander aus und wir besprechen die belastenden Themen in der Gruppe, das ist extrem hilfreich. Bei Refugio gibt es immer die Möglichkeit nach einem belastenden Termin, jemanden anzusprechen. So können wir die eigene Machtlosigkeit reflektieren. Aber diese Wochen waren wirklich schwer auszuhalten und trotz der Unterstützung der anderen konnten wir kaum abschalten, obwohl wir das während der Ausbildung lernen.
Tanja Lüders:
Diese Wochen waren mit den üblichen erlernten Strategien kaum zu bewältigen. Auch wenn wir viel Support haben, ich würde lügen, wenn ich sage, dass es mir in den letzten Wochen gut gegangen wäre. Aber wir müssen ja den Klient*innen Sicherheit und Stabilität vermitteln.
Javed Rahimi:
Für mich war es traumatisch, weil ich beteiligt war. Die Klient*innen haben über Probleme berichtet, die auch meine Familie hat. Das erste Mal war meine Arbeit als Dolmetscher wirklich schwierig. Mir ging es psychisch nicht gut, ich war sehr traurig und frustriert, weil ich nichts tun konnte. Ich wurde dauernd angerufen, weil meine Familie Hilfe gebraucht hat, aber ich konnte nichts tun. Ich hatte dann einen Termin mit Tom (Thomas Egger, Psychotherapeut bei Refugio München, Anm. d. Red.) zur Supervision, er hat mit mir gesprochen und das Gespräch hat mir geholfen.
Tanja Lüders:
Da habe ich auch großen Respekt, weil es nochmal etwas ganz anderes ist, wenn man persönlich betroffen ist. Ich bewundere, wie du das aushältst und weiter machst.
Wir waren sehr froh bei den Terminen Dolmetscher*innen dabei zu haben. Es war so hilfreich, wenn die Dolmetscher*innen tröstende Worte gefunden haben. Es kommt ja nicht so oft vor, dass gerade junge Männer anfangen zu weinen und dann war es gut, jemanden aus ihrer Heimat dabei zu haben. Vielen Dank.