Jahresbericht 2021
Kinder- und Jugendbereich
Tanja Lüders nimmt sich viel Zeit für die Menschen, die zu ihr kommen. Die Sozialpädagogin betreut seit 2015 Familien in einer speziellen Familienfachstelle für geflüchtete Menschen.
Grundsätzlich handelt es sich bei der Erwachsenentherapie und der Kinder- und Jugendtherapie um zwei voneinander getrennte Fachbereiche mit jeweils spezialisierten Therapeut*innen. Dies ist sinnvoll, denn Anforderungen und Behandlungsmethoden unterscheiden sich je nach Alter unserer Klient*innen. Bei Familien ist allerdings häufig eine fachübergreifende Behandlung und Betreuung sinnvoll – wenn zum Beispiel die psychische Belastung eines Kinders mit den Problemen der Eltern zusammenhängt. Die Familienfachstelle bietet einen Rahmen für solch eine übergreifende Behandlung. Therapeut*innen können Informationen austauschen. Tanja Lüders führt alle Informationen zusammen.
Ein Fall, der Tanja Lüders aus dem letzten Jahr besonders im Gedächtnis geblieben ist, ist der einer Familie aus dem Kongo: Ein siebzehnjähriges Mädchen (sie heißt hier Nafia) und ihre Mutter. Die Mutter wurde in einem Gefängnis in Kinshasa gefoltert. Ihr Mann, Nafias Vater, war politisch aktiv in der Opposition. Er wurde gefangen genommen und ist seitdem verschwunden. Nach Monaten der Gewalt gelingt Mutter und Tochter die Flucht. Bekannte beschaffen ihnen Flugtickts in die Türkei. Von dort aus wollen sie weiter Richtung Deutschland. In Griechenland sitzen sie monatelang fest und müssen im maroden Flüchtlingscamp auf Moria ausharren. Die Zustände dort sind schrecklich und unsicher. Nafia wird vergewaltigt. Aus der Vergewaltigung entsteht ein Kind. Die erst siebzehnjährige Nafia, selbst noch ein Kind, wird Mutter.
Im Erstgespräch lernt Tanja Lüders Nafia kennen. Der Sozialpädagogin ist sofort klar, dass das Mädchen eine Behandlung benötigt. Es geht um sexualisierte Gewalt – ein Schwerpunkt unserer Arbeit bei Refugio München. Augenscheinlich ist die Siebzehnjährige in einem sehr schlechten Zustand. Sie hat starke dissoziative Phasen, in denen sie völlig abwesend ist. Sie isst und trinkt kaum. Auch Nafias Mutter benötigt therapeutische Hilfe. Die Therapieplätze für Erwachsene sind besonders rar. Da es sich aber hier um eine Familie handelt, erhält die Mutter schnell einen Platz.
Tanja Lüders hat nun beide Personen zusammen im Blick und analysiert den Fortschritt im Asylverfahren. Mutter und Tochter haben trotz der Gewalterfahrungen in der Vergangenheit einen Negativbescheid vom BAMF erhalten. In den Ablehnungsbescheiden liest sie Standardformulierungen. Im Kongo habe es 2018 einen offiziellen Präsidentenwechsel gegeben, die politische Lage sei seitdem ungefährlich und sicher für rückkehrende Geflüchtete. Die erfahrene Sozialpädagogin weiß jedoch, dass das nicht der Realität entspricht, auch wenn es einen offiziellen Machtwechsel gab. In den Behörden und Parlamenten im Kongo sitzen immer noch dieselben Menschen mit denselben politischen Einstellungen, die häufig Menschenrechte missachten. Nafia und ihre Mutter wären nicht sicher im Kongo. Deshalb haben die beiden direkt nach Erhalt des Negativbescheids Klage eingelegt.
Schnell stellt Tanja Lüders fest, dass in diesem sehr komplexen Asylverfahren der Familie Dinge übersehen wurden. Sie telefoniert mit verschiedenen Behörden und dem Sozialdienst in der Frauenunterkunft, holt sich Einschätzungen, macht Termine aus und klärt wichtige Fragen: Bei welchen Behörden war die Familie schon? Was hat funktioniert und wo ist etwas schiefgelaufen? Muss eventuell der Anwalt der Familie gewechselt werden? Lüders bringt Struktur in das Behörden-Wirrwarr, in dem sich die psychisch stark belastete Familie verloren hat. Zudem tauscht sie sich mit den behandelnden Therapeut*innen bei Refugio München aus, geht manchmal auch mit in Therapiegespräche, um Dinge besser zu verstehen. Jede Woche hat sie Einzeltermine mit der Mutter oder der Tochter. „Ich weiß die Freiheit auf dieser Stelle sehr zu schätzen“, sagt sie. „Ich kann mir die Zeit für die Menschen nehmen, die es oft braucht, damit sie ihr Leben wieder selbst gestalten können.“ Tanja Lüders bezeichnet ihre Stelle als einen kleinen Luxus für Familien, die in ihrem Leben viel Leid erleben mussten. Die Familienfachstelle wird vom Amt für Wohnen und Migration der Stadt München finanziert.