Lernen willkommen!
Psychotherapie und Beratung basieren auf Kommunikation. Ob sich alle gut verstehen, hängt nicht immer nur davon ab, ob man dieselbe Sprache spricht. Die Botschaften hinter den Worten sind oft entscheidend.
Unsere Therapeut*innen und Berater*innen haben viel Expertise im Gespräch mit Menschen aus anderen Kulturkreisen. Und wir können immer auf die Hilfe der Dolmetschenden, die auch Kulturmittler*innen sind, zählen. Und doch kommt es manchmal zu Situationen, die zeigen, dass wir nie auslernen. Katrin Kammerlander-Straub ist eine sehr erfahrene Psychotherapeutin und berichtet hier aus dem Nähkästchen:
Vor einiger Zeit muss sich eine meiner Klientinnen wie in einer amerikanischen Comedy-Serie gefühlt haben: Jemand landet über Nacht in der Arrestzelle. Und dann kommt ein anderer, stellt sich vor die Person hin und sagt „nette Schuhe“. In der nächsten Szene sieht man die erste Person dann strumpfsockig dasitzen. Es war ihr erster Termin bei Refugio München und wir hatten eine Sprach- und Kulturmittlerin dabei. Um die für sie fremde Situation ein wenig aufzulockern, wollte ich freundlichen Smalltalk betreiben, so wie „man“ das halt macht und sagte: „Sie haben aber ein hübsches Armband.“ Beim letzten Satz merkte ich schon, dass etwas nicht wie geplant lief. Die Klientin wandte sich mit großen Augen an die Sprachmittlerin und zog das Armband ab. Mein Hinweis auf ihr hübsches Armband war für sie eine klare Aufforderung für ein „Bakshish“, also eine Bezahlung, um bei uns Unterstützung zu erhalten. Zum Glück konnte das schnell geklärt werden. Und bis heute ist „hübsches Armband“ ein Running Gag zwischen uns.
Situationen wie diese, in denen die eine Seite etwas sagt, die andere Seite das jedoch im eigenen kulturellen Kontext völlig anders interpretiert, gibt es natürlich auch bei uns im therapeutischen Setting immer wieder. Das fängt zum Beispiel damit an, dass ich als „deutsch“ sozialisierte Person gelernt habe, dass direkter Blickkontakt ein Zeichen von Aufrichtigkeit ist. Für viele Menschen, die in anderen Kontexten aufwachsen, gilt jedoch, dass Blickkontakt mit älteren Menschen oder Personen, die aufgrund ihrer Stellung als Respektspersonen gelten, vermieden wird. Das führt dann leider auch bei deutschen Behörden oft zu Problemen, wenn zum Beispiel Anhörer*innen oder Richter*innen aus der eigenen Sozialisation heraus fehlenden Blickkontakt als Zeichen für Unehrlichkeit interpretieren.
Auch die „typisch deutsche Art“, direkt „Nein“ zu sagen, ist für viele unserer Klient*innen erstmal „schwere Kost“. In vielen anderen Ländern wird ein direktes Nein als extrem unhöflich empfunden. Während ich mich auf ein klares Ja oder Nein verlasse bei der Frage, ob ein Termin passt, würde ein afghanisches Nein möglicherweise so klingen: „Am Mittwoch. Ah ja. Hm. Doch. Ja. 10 Uhr? Hm. Ja. Ich werde es versuchen. Wenn der Termin für Sie gut ist, machen wir das.“ Ich hörte anfangs immer „ja“ und „versuchen“. Meine tollen Sprachmittler*innen haben mir inzwischen beigebracht, auf die „Luft zwischen den Zeilen“ zu hören. Allein die Länge der Antwort zeigt: Es ist kein „Ja“.
Ein anderes Beispiel ist Pünktlichkeit. Ein Klient sagte mal zu mir: „Ihr habt die Uhren. Wir haben die Zeit.“ Gemeinsam fanden wir heraus, dass Deutsche ihre vereinbarten Uhrzeiten sehr genau nehmen. Ich beende die Therapiestunde auch, obwohl wir aufgrund des Zuspätkommens vielleicht nur 25 Minuten hatten. Dies wiederum empfand mein Klient als sehr unhöflich und unfair; er war ja jetzt da und erwartete, dass ich mir die vorher vereinbarte Zeit für ihn nehme, so wie er sich auf dem Weg zu mir auch die Zeit für den Freund genommen hatte, den er zufällig getroffen hatte. „Aber das geht doch nicht! Wenn ich den Freund jetzt treffe, gebietet es meine Erziehung, zu fragen, wie es ihm geht, und ein bisschen Zeit zu schenken! Anderes als Zeit habe ich ja nicht wirklich zu schenken…“
Solche und ähnliche Situationen erleben wir im therapeutischen und sozialberaterischen Alltag immer wieder. So wie ich gelernt habe, nicht nur Worte, sondern auch das „Dazwischen“ zu hören, so wichtig ist es auch, Klient*innen mein „typisch deutsches“ Verhalten zu erklären.
Unsere Arbeit ist wie eine kleine kulturelle Reise um die Welt. Es ist immer wieder toll, gemeinsam neue Erfahrungen zu sammeln und verschiedenste Blickwinkel austauschen zu dürfen. Jeden Tag nehme ich ein Fettnäpfchen mit, jeden Tag darf ich etwas Neues lernen.